Ein Abendessen mit Freunden in der Osterwoche

Ich war auf dem Weg nach J-Town, nein, nicht Johannesburg, SA, sondern in eine Provinzstadt irgendwo im Osten des Landes. Mein Schnellzug dröhnte über Brücken und durch die vielen Tunnel in den Bergen. Es war eine lange Reise. Ich war seit gestern Nacht unterwegs gewesen und jetzt müde.

Sousse, der Leader unserer Bewegung, hatte uns alle für heute zusammengerufen, er wollte etwas Wichtiges bekannt geben, etwas, was nicht über Zettel und Nachrichten verteilt werden durfte, denn die Mitteilung war zu belangreich, um sie einfach zu verschicken. Die Umstände unseres Treffens waren überhaupt nicht so wie sonst bei uns üblich, denn wir trafen uns gewöhnlich nur selten und zu so einem konspirativen gemeinsamen Abendessen wie heute waren wir noch nie zusammengekommen. Dieser Abend war das allererste Mal, dass alle zwölf Freunde zur gleichen Zeit in J-Town weilten, kein Zufall. Drei Jahre lang waren wir alle – meist einzeln und allein – in der ganzen Region und in fremden Ländern herumgezogen und hatten die neue Idee, die Hoffnung auf Frieden und Freiheit und die Macht der Nächstenliebe verbreitet. Manchmal offen, häufiger aber besser im vertraulichen Gespräch:

»Alle Menschen sind gleich«, und »alles wird irgendwann viel besser, ja geradezu paradiesisch – wenn wir alle nur daran glauben«, behaupteten wir, weil wir dessen sicher waren. Man solle sich halt nicht mit der Gegenwart abfinden, mit den jetzt herrschenden Mächten und der Obrigkeit. Gerade das Letztere beunruhigte die Machthaber, denn sie wollten keine Veränderung in ihrem Imperium und fühlten sich, trotz ihrer riesigen Militärmacht und Geheimpolizei, bedroht.

* * *

Ich wusste, dass einige von uns, bedingt durch ihre Arbeit, immer in dieser Stadt oder den Dörfern im Umland lebten. Andere reisten mit verschiedenen Aufgaben durch das Land, übermittelten Botschaften, verteilten Pamphlete oder hielten ab und zu kurze Reden, um die Getreuen und Gefolgsleute weiter zu motivieren. Jake-Zee, einer der beiden Jakes kam aus dem Westen. Matt hatte die längste Anreise gehabt, wochenlang auf allen möglichen Fahrzeugen, später mit dem Floß einen großen Fluss herunter und die letzte kurze Strecke mit einem Frachtschiff übers Meer.

Die Stadt war voll von Militär, Soldaten, Kriegswerkzeug und von Schnüfflern, die sich nicht zu erkennen gaben und vorgaben wie Händler am Markt ihrer Arbeit nachzugehen. Verschwiegenheit und geheimes Verhalten war daher immer wichtig, denn wir wussten, dass »sie« unserer Gruppe nachspürten, uns verfolgten und unsere Ziele ausspionieren wollten.

Noch mehr Soldaten waren in den letzten Wochen mit Lastwagen und per Zug angekommen und hatten sich in der Stadt verteilt, an jeder Straßenkreuzung, am Markt sowieso. Ihre Lager hatten sie im Park der Stadt aufgeschlagen. Sie nahmen sich, was sie brauchten von den Bauern, Fischern oder vom Markt, ohne etwas dafür zu bezahlen. Wer genau »sie« waren, blieb immer unklar, Spitzel, Geheimpolizei, Soldaten, gewöhnliche Polizei, die Grenzen waren verschwommen, aber allen war gemein, dass sie für die Obrigkeit arbeiteten, für diese diffuse Machtstruktur, die sich vor der Wahrheit fürchtete, weil der Wind der Veränderung in ihr System jederzeit verwehen könnte. Ihr Reich war nicht für die Ewigkeit gemacht.

Die Soldaten und Söldner redeten untereinander nicht einmal in der Sprache der fremden Besatzer, die fast jeder verstand, sondern mit eigentümlichen Redeweisen aus anderen Provinzen, die hier nicht bekannt waren. Nur die Kommandos waren verständlich. Die Truppen waren ganz offensichtlich aus anderen Provinzen zusammengezogen worden, denn sie eines war klar: Die Staatsmacht in der Hauptstadt, J-Town, war in Angst und befürchtete Unruhen, ja vielleicht einen Bürgerkrieg, der diese reiche Provinz (oder sollte man das Gebiet besser eine Kolonie nennen?) zerreißen könnte. Und dann bestünde die Gefahr, dass der Strom der Tributzahlungen und die Ladungen lokaler Schätze aus dem unterworfenen Verwaltungsgebiet in die Hauptstadt versiegen könnte.

Es ging um Macht und Geld. Wie so oft in der Welt.

Gerade vor ein paar Monaten hatte die Kolonialmacht einen neuen Gouverneur, man könnte ihn auch Stadtkommandanten nennen, in J-Town ins Amt eingeführt, einen, der richtig scharf durchgreifen sollte, und jede Bewegung, die nach Unabhängigkeit streben könnte und womöglich sogar – wie wir – im Untergrund operierte, mit der Wurzel entfernen sollte, egal wie, gerne auch mit grober Gewalt. Jeder war verdächtig, einen Umsturz vorzubereiten. Die Zuträger und Denunzianten der Staatsmacht waren ausgeschwärmt und sammelten Wissen, Fakten und Lügen, egal.

Seit ein paar Tagen war die Situation eskaliert. Das kam nach einem Treffen mit unseren Fans in dem Park, auf einem Hügel vor der Stadt, wo sonst nur Oliven wuchsen. Bei diesem Treffen waren schnell Tausende Menschen zusammengelaufen, um Sousse zuzuhören. Spontan und ohne Versammlungsgenehmigung; so etwas durfte es nicht geben.

* * *

Sousse, er nannte sich selbst Che Sousse, versprach Hoffnung, den Frieden, nach dem sich die Unterdrückten so sehnten, den die Obrigkeit aber nicht anbieten konnte, eher das Gegenteil.

Dann sagte Sousse noch, er würde wiederkommen, bald oder irgendwann in der fernen Zukunft, und dann, ja dann, würde alles gut. Das verwirrte. Einzelheiten nannte er nicht, aber er sagte, man könne das bevorstehende Ende des Regimes leicht absehen, nämlich dann, wenn Naturkatastrophen, Klimawandel, Kriege und weltweite Seuchen Pandemien die Welt quälten.

Also irgendwann einmal.

Selbstverständlich gefiel diese Botschaft der Hoffnung und der Menschlichkeit den Machthabern gar nicht, besonders dem neuen Herrn Rhodes, denn sie hatten keine Hoffnung anzubieten, sondern nur noch mehr Abgaben, noch mehr Sklavenarbeit, aber keine Zukunft, für die es wert sei zu leben oder gar zu sterben.

* * *

Das Treffen unserer zwölf Freunde war im oberen Geschoss im Haus von Johanna angesetzt. Wir wussten, dass sie vertrauenswürdig und verschwiegen genug war, denn ihr Sohn, Marc, stand unserer gemeinsamen Sache nahe. Er sprach mehrere Sprachen und kümmerte sich daher um Schrift und Dokumentation unserer Gemeinschaft oft auch um die Korrespondenz mit den Freunden, die in weit entfernten Ländern für unsere Sache warben. In dem Obergeschoss Johannas Hauses gab es keine Feuerstelle, keine Küche, aber dafür war der Raum, dank der großen Fenster, kühl. Eine leichte Abendbrise wehte angenehme Frische in den Innenraum. Die Fenster erlaubten auf der einen Seite einen Blick auf die engen Gassen der Innenstadt, auf der anderen Seite auf den grünen Hügel mit den Olivenbäumen, wo Sousse vor einigen Tagen seine Rede gehalten hatte.

Johanna hatte am Nachmittag in aller Eile frisches Brot, eingelegte Oliven und Wein besorgt. Einfacher Rotwein aus der Provinz, reichlich in der Menge, Baguettebrot und Fladenbrot, um etwas Abwechslung auf den Tisch zu bringen. Es sollte keine trockene Zusammenkunft sein. Wenn wie uns schon so selten trafen, dann sollten wenigstens alle den Eindruck eines gemeinsamen Abendessens mitnehmen. Aber selbst die Besorgung von Brot, genug um zwölf Brüder zu sättigen, war mit beachtlichen Schwierigkeiten verbunden.

»Wozu brauchen Sie so viel Brot an einem Tag? Haben Sie Besucher im Haus?«, und weiter, »sind die Gäste aus der Stadt oder kommen sie von außerhalb? Genau, von wo? Sind die bei der Bezirksverwaltung angemeldet?« Die Besatzungsmacht war überall und stellte viele Fragen.

Johanna hatte in kluger Voraussicht schon am Vormittag am Wochenmarkt frisch geräucherten Fisch gekauft und verfügte dazu noch über einen guten Vorrat an Thunfischkonserven, den sie den Gästen gerne überließ und an den Tisch stellte.

Das einfache Essen war aufgetragen, es herrschte stille in der Runde und die Augen aller ruhten auf Sousse, dem Kopf unserer Gruppe. Draußen hätte man ihn Anführer genannt.

Sousse in die Runde: »Habt ihr Waffen dabei? Wo habt ihr die abgelegt oder verborgen?« Einer nach dem anderen wurde befragt. Gemurmel. Nein, niemand hatte Waffen an sich oder beim Eingang versteckt.

Pete: »Ich habe ein Messer, aber das ist keine Waffe, sondern mein Werkzeug. Es kommt nicht darauf an, was man darüber denkt, sondern was man damit macht. Ich bin Fischer und brauche das Messer für meine Arbeit, ehrliche Arbeit.«

Sousse: »Freunde, wir müssen noch vorsichtiger werden als bisher, denn wir können davon ausgehen, dass die Verwaltung Fremde, Spione und Schnüffler in unsere Gruppe hineinschmuggeln will.« Einer fragte:

»Und wie erkennen wir die?«

Sousse: »Es ist den Leuten ja nicht ins Gesicht geschrieben, was sie denken und auf wessen Seite sie stehen. Manche erkennen wir an ihrem Dialekt, besonders wenn sie nicht von hier sind, aber Fremde sind nicht unsere Gegner und Verfolger, sondern die, die sich vor der Wahrheit fürchten und in der Liebe der Menschen eine Gefahr sehen.«

Matt: »Wir haben es aber vielleicht auch übertrieben, letzte Woche.«

»Warum? Was war da?«

Matt: »Ja, der große Aufzug, dieser absurd große Riesenaufmarsch, und dann noch Sousse auf dem Motorrad, wie er die vierspurige Prachtstraße entlang in die Stadt tuckerte. Das war alles zu viel und außerdem viel zu offensichtlich.«

Jo: »Das war doch nicht viel, wir hatten doch schon viel größere Gigs und Massenveranstaltungen. Erinnert ihr euch noch an die fünftausend Leute, die damals am See vor dem Open Air zu uns kamen. Damals, als wir nichts für die Leute zu essen hatten und Sousse eingreifen musste. Er brach das Brot und auf einmal war es genug für alle. Damals war wirklich was los. Marc, Matt und Luke waren damals dabei und haben alles genau beschrieben und weitererzählt, jedem der zuhören wollte.«

Matt: »Ja, genau, das ist das Problem, damals am See und jetzt letzte Woche bei der kleinen Demo hier in J-Town. Die Obrigkeit hat jedes Mal noch mehr Angst vor uns. Die wollen, dass der Plebs niemand anderem zujubelt als ihnen selbst und nur ihnen. Der Gouverneur, oder was auch immer der Kerl ist, dieser Mister oder Herr Rhodes ist neu im Job und muss seinen Leuten in der Hauptstadt erst noch beweisen, dass er hier der Boss ist und wenn nötig hart durchgreifen kann.«

»Na und? Kann er doch. Wir sind doch friedlich. Und wir unterstützen den Kaiser in der fernen Hauptstadt, auch wenn er nicht gerade unser Idol ist.«

Marc: »Ich weiß, wir haben es letzte Woche wirklich übertrieben. Die Leute haben vor lauter Begeisterung Palmzweige aus den Pflanzkübeln an der Hauptstraße abgerissen und vor Sousse wie einen Teppich auf die Straße gelegt. Palmwedel! Dabei wurden die Bäume extra aus Ägypten herangeschafft und sind dem Apollo geweiht und heilig, jedenfalls glauben sie das. Und das hat sie richtig geärgert, besonders dass sich Sousse, bei dem Einzug fast wie ein König hat feiern lassen. Die wollen halt keinen Zweit-König.«

Tom: »Ist ja schon gut. Es ist halt so passiert.«

Sousse: »Nein, es ist ganz und gar nicht gut so. Jetzt sind sie hinter uns her und wir dürfen uns nirgends mehr blicken lassen. Aber das war mit der Zeit auch nicht mehr zu verhindern. Inzwischen haben sie einen unserer Freunde, heute Abend, als Doppelagent eingeschleust. Da ist einer bei uns, der alles ausplaudert.«

In unserer Tischrunde ist fassungsloses Schweigen. Wir versuchen uns gegenseitig nicht anzusehen, suchen aber trotzdem nach dem Gesicht.

* * *

Sousse machte eine große, einladende Bewegung, um jetzt die Aufmerksamkeit aller auf sich zu richten:

»Ich will euch etwas zeigen«, zieht den Brotkorb zu sich heran, greift zu dem Brot, nimmt eines heraus.

»Hier, an dem Brotbrechen werden wir uns und unsere Freunde immer und überall erkennen und wir werden so herausbekommen, wer zu uns gehört und wer nicht.« Sousse zerreißt das Brot in einer sonderbaren Weise in drei Teile; wiederholt den gleichen Vorgang auch mit dem Fladenbrot, wieder drei Teile. Die zwölf Freunde verfolgen wachsam die Handlung.

Phil: »Und das ist alles?«

Tad: »Kein Siegel, kein Passwort, QR-Code oder sowas? Etwas, was nicht so einfach nachzumachen ist?«

»Nein, das genügt, das ist unser Erkennungszeichen. Einfach. Wir werden uns gegenseitig daran erkennen und, was noch wichtiger ist, an unseren Taten, vor allen Dingen an dem, für was wir stehen und ganz besonders an dem, was wir für andere Menschen tun. Später, in der Zukunft werden wir andere Zeichen oder Symbole verwenden, die Art wie wir uns begrüßen vielleicht, Umarmung, Bruderkuss, ein Händedruck wie bei den Freimauren oder was auch immer sich mit der Zeit und der jeweiligen Region neu formen wird.«

Sousse holte aus und wurde ausführlicher:

»Ihr habt mich neulich im Olivenhain gefragt, woran man denn erkennen könne, dass die Welt, wie wir sie kennen, bald zu Ende gehen wird und unsere Herrschaft von Liebe und Vergebung endgültig dominieren wird.«

»Ja und?«

»Es werden Leute auftauchen, Kaiser, Generäle, Präsidenten, ja sogar falsche Heilige, die viel versprechen, meist Geld und Macht, aber sonst nichts erreichen. Und es wird (deswegen?) Kriege und blutige Revolutionen geben. Vielleicht werden Menschen verhungern, von Minen zerrissen oder an pandemischen Seuchen sterben.«

Gemurmel. Jude und andere Stimmen:

»Also, Herr Sousse, was ist dann gut an unserer Zukunft?«

Seine Antwort: »Wartet nur ab. Es wird erst schlechter werden, bevor es gut wird. Ihr müsst nur daran glauben.«

Stimmen: »Das ist viel verlangt.«

Andere Stimmen: »Prinzip Hoffnung also. Ja, die stirbt immer zuletzt. Aber keine feste Zusage und schon gar kein klarer Plan. Wir sollen das alles einfach so glauben.«

Jude schüttelte den Kopf.

Die zwölf Freunde hörten schweigsam zu. Sousse war in Eifer gekommen und redete weiter und weiter:

»Wir müssen uns immer konspirativ verhalten. Jederzeit. Draußen, schon morgen, werden wir so tun als hätten wir uns nie gesehen und nie gekannt. Wie Fremde, die sich nie begegnet sind. Auch wenn die Soldaten uns verprügeln, wir liefern keinen von uns den Besatzern ans Messer.«

Nach einer Pause:

»So, jetzt wollen wir endlich essen, aber bevor wir anfangen, und bevor wir dem Wein zusprechen, lasst uns noch ein Foto machen, um diesen Moment für alle Zukunft festzuhalten. Das wird die Leute noch Jahrhunderte lang beschäftigen. Sie werden versuchen, zu verstehen, wer mit wem zusammensaß, welche Blicke gewechselt wurden, was davor geschah und was danach und was die Gesten und Blicke bedeuten könnten. Sie werden diskutieren und Bücher darüber schreiben. Dabei ist das gar nicht wichtig. Es ist nur ein Bild von zwölf Freunden.«

Sousse: »Also denkt bitte daran, wenn ihr wieder roten Wein trinkt und das Brot auf unsere Weise teilt: Ich werde nicht mehr lange bei euch sein, bitte behaltet mich so in der Erinnerung. Das ist wichtig«, und nach einer Pause, »Immer wenn ihr euch trefft, zu Zweien, Dreien oder mehr und an mich denkt, dann werde ich bei euch dabei sein und mich an euren Gesprächen beteiligen und eure Gedanken formen.«

Da konnte ich nicht still sein und musste ich nachfragen:

»Warum willst du uns alleine lassen? Wir sind doch gerade erst so schön zusammengekommen.«

Sousse: »Wir wissen alle nicht, was die Zukunft bringen wird. Ich bin sicher, ja ich weiß, dass sie mich vielleicht schon morgen fangen und verhören werden, und was sie sonst noch alles mit mir vorhaben. Vielleicht bringen sie mich auch um. Aber das ist ganz egal, denn unsere Sache ist viel wichtiger.«

Sousse, zu mir gerichtet und in leiserem Ton:

»Und bitte, Simon, wenn dich die Leute morgen fragen, ob du mich kennst, ob du heute Abend hier mit uns gegessen hast – dann sag’ einfach nein. Egal wer fragt, du kennst mich nicht, du hast mich nie gesehen, du weißt nicht, wer ich bin. Antworte drei Mal und noch öfter, wenn es nötig ist.«

»OK, aber das haben wir doch gerade schon so besprochen, oder?«

Sousse: »Und noch was: Wenn das alles schiefgeht und ich nicht mehr hier bin, dann übernimm du, bitte, die Führung. Ich baue darauf, dass du mich vertrittst. Wenn die Zeit gekommen ist, in ein paar Monaten oder im nächsten Jahr, bitte reise in die Hauptstadt der Besatzer, dorthin wo Mister Rhodes herkommt und verbreite dort meine, ja unsere Denkweise und unsere Weltanschauung. Die werden dich anfeinden, verfolgen, vielleicht sogar töten, aber ich werde dafür sorgen, dass alles gut wird. Du kannst dich auch mich verlassen.«

»Warum ist das wichtig?«, fragte ich.


»Damit die Welt in Frieden leben kann. Alle Menschen werden Brüder – kennst du das nicht?«, antwortete Sousse.

»Was?«

Sousse erklärte wortreich: »Es läuft immer genau so ab: Am Anfang nehmen sie das alles nicht ernst, verlachen uns und unseren Glauben. Dann, wenn sie merken, dass wir die bessere und erfolgreichere Geisteshaltung haben und uns viele Menschen folgen, dann fangen sie an, uns nachzustellen. Das hier bei uns hat gerade erst angefangen, und in ein paar Stunden, wenn wir heute Nacht unten aus dem Haus gehen, werden sie uns verfolgen, hetzen wie Hunde. Aber am Ende werden wir triumphieren. Sie werden sich bewusst werden, dass wir recht haben, dass unsere Denkweise die einzig Richtige sein kann. Dann werden sie sich uns anschließen. Nur leider kann das lange dauern, bis sich unser Gedanke von Freiheit und Nächstenliebe durchsetzt.«

Jetzt mischte sich Jude, der bislang schweigend zugehört hatte, in die Unterhaltung ein:

»Also bitte, sprich doch mal im Klartext mit uns. Bist du gekommen, um uns, unser Land, unser Volk, unsere Stämme von der Besatzung und der militärischen Unterdrückung zu befreien? Oder erzählst du uns hier nur irgendwas von der Zukunft, in der angeblich alles gut wird, von der aber niemand weiß, ob oder wann sie kommt?«

Jude aufgeregt: »Manchmal möchte ich glauben, dass du uns nur mit vager Hoffnung auf eine unklare Zukunft abspeisen willst. Beruhigungspillen. Opium für das Volk. Auf wessen Seite stehst du eigentlich, Sousse?«

Sousse: »Ihr werdet sehen, ihr werdet selbst sehen, was passieren wird.«

Jude war sichtlich enttäuscht:

»Das genügt mir nicht. Ich habe im Norden mit meinen Leuten mühevoll und mit viel Leid gegen die Besatzer gekämpft und sie jagen uns jetzt wie Guerilla-Kämpfer. Aber ich bin jetzt der Sache leid. Entweder wir rollen alles von hier aus, von der Provinzhauptstadt her, auf, meinetwegen mit Waffengewalt – oder wir vergessen alles, haben uns nie getroffen, haben uns nie gekannt. Keine Gewalt, kein Kampf mehr. Das wäre sowieso besser für uns alle. Also wie weiter?«

Sousse: »Geduld, Freunde Geduld. Unser Reich ist nicht von dieser Welt und die Besatzer sind nicht unsere Feinde.«

»Ach ja, wer denn dann?«, fragte Jude in einem sarkastischen Ton.

»Wir selbst sind unsere eigenen Feinde, aber auch unsere Freunde. Jeder Mensch ist gut, selbst die Spitzel der Besatzer und deren Polizisten. Es wird lange dauern, sehr lange, bis sich diese Überzeugung durchsetzt.«

Jude: »Zu lange!«

Sousse: »Mein Vater wird uns dabei helfen.«

Bart, der bislang geschwiegen hatte, warf in einem zynischen Ton ein:

»Ach ja. Klar. Kennen wir den? Wer ist das? Hat er Soldaten?«

Jude: »Papperlapapp! Wie soll das denn gehen? Das ist doch alles Quatsch, leeres Gerede! Wofür halten wir denn sonst hier unsere Köpfe hin, wenn nicht zur Befreiung unserer Heimat von den Besatzern?«

Sousse: »Ich bin nicht euer Anführer, und schon gar nicht euer Kommandant oder General. Nein, ihr habt euch mir angeschlossen, weil ihr meine Vorstellung von Frieden, Freiheit und Menschenliebe richtig und gut fandet. Damals leitete noch Begeisterung unsere Überlegungen und nicht, so wie jetzt, Angst. Wir wollen keine Revolution und schon gar keinen blutigen Bürgerkrieg anzetteln, sondern wir wollen, dass unsere Weltauffassung wie die Hefe im Sauerteig die Gesellschaft zum Besseren ändert. Nicht nur hier, sondern auch in der Hauptstadt und dann auf der ganzen Welt, ja sogar in Gegenden, von denen wir noch gar nicht wissen, dass es sie gibt.«

Sousse, zu mir und mit leiser Stimme:

»Ich weiß, dass du früher gehen musst, Pete. Da draußen wartet jemand auf dich. Dann gehe jetzt. Mach’ das, was du machen musst, aber tue es jetzt und nicht irgendwann. Und geh’ jetzt, wenn es so sein muss. Und vergiss nicht, dass du unsere Sache weiterführen wisst.«

* * *

Man kann einem Menschen seine Gedanken nicht ansehen. Man kann nicht wissen, nicht einmal erahnen, was er denkt und was er will. Man erkennt die Innere Haltung eines Menschen nur aus dem, was er tut und aus dem, was er zu tun unterlässt. So auch mit Jude. Er war unserer Gruppe jahrelang treu durch dick und dünn gefolgt, hatte gemeinsam mit uns viele Schwierigkeiten überwunden und war, wie es immer schien, mit ganzem Herzen einer von uns. Aber was hatte seinen Sinn geändert? Manche behauptetet, jedoch ohne Beweise, dass er sich heimlich aus der gemeinsamen Kasse bedient hätte. Oder hatte er sich Ruhm und Reichtum erwartet, eine Führungsposition in der Gruppe der zwölf Freunde?

Wir werden es nie wissen.

Jetzt, hinterher, scheint es eher, als hätte er unserer Gruppe, die er einst nach Kräften unterstützt hatte, keine Zukunft mehr gesehen. Vielleicht war er zu der Ansicht gekommen, dass die fantastischen Ziele nur inhaltsleere Träumereien waren, die zu nichts führen würden, schon gar nicht zur Befreiung von den lästigen Besatzern.

Vielleicht noch hinterlistiger, es war sogar denkbar, dass die Obrigkeit die Gruppe der Freunde unterwandert hatte und ausnutzte, um Systemfeinde zu enttarnen und dann zu verfolgen.

Ich habe es nie erfahren, was Judes wahre Beweggründe gewesen waren. Ich weiß nur, dass er sein internes Wissen für einen reichlichen Geldbetrag verkauft hat. Als Protest? Zum Teufel mit der Loyalität? Ich weiß aber auch, dass er das Geld gar nicht gebraucht hatte.

Also warum dann?

* * *

Es war schwer, nach diesen dusteren Andeutungen wieder in die normale Unterhaltung zu zurückzufallen. Wir wollten uns eigentlich gegenseitig ausfragen, was wir seit unserem letzten Zusammensein erlebt hatten. Gerade Matt, Bart, Tad und alle, die schon seit Monaten oder sogar Jahren nicht mehr in J-Town gewesen waren, hatten viele Geschichten zu erzählen, Berichte von ihren Reisen, von fremden Völkern, deren Gastfreundschaft aber auch von deren ungewohnten Sitten. Aber es kam nicht zu dem erwarteten Geplauder, denn zu schwer lastete die Aussprache zwischen Jude und Sousse auf uns allen.

Was wusste Sousse? Warum fehlte ihm die Zuversicht, die wir sonst immer von ihm kannten? Warum verhielt er sich heute so seltsam?

Unser heutiges Treffen war daher schnell beendet, Brot, Wein und etwas von dem Fisch waren noch übrig, denn niemand von uns hatte mehr Lust am Essen.

Es war drei Tage vor dem Pessach Fest, die Nacht mondhell und sternenklar.

Wir verliessen das Haus einzeln, einer nach dem anderen, dazwischen Minuten des Abwartens. Sie sollten uns nicht zusammen sehen und nicht wissen, woher wir kamen und auch nicht, wo wir uns getroffen hatten. Ich gab Maria noch etwas Geld für den Fall, dass ihre Besorgungen auf dem Markt noch nicht ganz bezahlt waren und für die Notwendigkeiten der nächsten Tage und verließ dann als Letzter das Haus.

* * *

Draußen war viel los, viel mehr als man in so einer Nacht erwarten konnte. Menschen kamen aus ihren Häusern, rannten durch die Straßen hin zu Rhodes’ Palast.

Was ging hier vor?

Jude hatte Sousse verpfiffen. Er hatte ihnen gesteckt, wo Sousse zu finden sei, und sie hatten ihn auf dem Heimweg aufgegriffen.

Ich folgte dem Strom der Massen hin zum Palast, dorthin wo die Menschen aus allen Richtungen zusammenliefen. Eine Frau die ich kannte, Magda, lief mir auf der Straße entgegen, zupfte mich am Ärmel, hielt mich dann am Arm fest:

»Du bist doch auch einer von denen, oder?«

»Nein, weiß ich nicht. Ich kenne die nicht.« Ich merkte, dass meine Ausrede nicht glaubhaft klang. Noch jemand, eine ältere Frau, stellte sich mir in den Weg:

»Willst du ihm nicht helfen? Kannst du ihn da nicht raushauen oder wenigstens ein gutes Wort bei Rhodes für ihn einlegen? Um Himmels willen, mach’ doch was! Irgendwas!«

Es fiel mir schwer, so zu antworten, wie er es uns aufgetragen hatte; trotzdem:

»Nein, ich kenne ihn nicht, ich weiß nicht, wer er ist und schon gar nicht, warum er hier her geschleift wurde.«

Es war schwierig, in dem Auflauf der Massen herauszufinden, was wirklich vorging; die Leute schrien durcheinander, immer mehr Menschen kamen aus ihren Häusern; Lärm, Geschrei, Bewegung hin zum Palast hin.

Die erste Morgendämmerung schien ein unwirkliches Licht auf die Szene, von Minute zu Minute heller, klarer.

Lärm. Hähne krähten.

Die Meute wollte Blut sehen. Es hatte schon seit Wochen keine Hinrichtung mehr gegeben, keine Belustigung, keine Unterhaltung für den Plebs. Also schrien sie:

»Tod dem Verräter!«, und, »Hängt ihn auf«, oder, »Kreuzigt ihn!«

Dabei waren sie sich völlig im unklaren, um was es hier wirklich ging, sie wollten nur Blut sehen, jemand der aus irgendeinem nichtigen Grund hingerichtet wird und sich an seinem Ableben sich ergötzen. Unterhaltung eben. Es war wieder das übliche Spiel; das Gleiche in der Provinz wie in der Hauptstadt. Man tötete Menschen und Tiere, manchmal als Verbrecher, ein andermal als Schauspiel, Zirkus, – alles nur, um die Zusammenrottungen gelangweilter Bürger und Gesindel zu befriedigen. Die unmenschlichen Schauspiele lenkten den Zorn des Plebs, die Wut der besitzlosen Herumtreiber von den Herrschen ab und auf armselige Todeskandidaten, auf deren Ende – mors decora –man Wetten abschloss und Wein trank.

Seit Urzeiten erfüllten Machthaber ihr Verständnis der Macht dadurch, dass sie etwas töteten, Opfertiere an manchen Feiertagen, Missetäter oder praktischerweise Knechte, die ihr Leben beruflich aufs Spiel setzen, Gladiatoren. Blut musste auf die Steine oder den roten Staub am Boden tropfen.

Aber was hatten sie Sousse vorzuwerfen?

Alles und nichts. Die Priester betrachteten es als Gotteslästerung und Ketzerei, dass jemand voraussagen wollte, er käme irgendwann in der Zukunft zurück und rettete dann die ganze Welt. Die Verwaltung der Besatzer konnte es natürlich nicht hinnehmen, dass irgendwann ein neuer König kommen sollte, denn das gefährdete die Staatsmacht und die deren kommende Zeit. Sousse’ Behauptungen waren nicht populär, noch bedrückender, sie sollten ihm bald den Kopf kosten. Wahrscheinlich hatte Jude es ihnen eingeflüstert, aufgebauscht und sie glaubten es nur allzu gerne.

Und der Plebs bekam sein Schauspiel.

Rhodes und seine Palastschranzen wollten das Spektakel für die tobenden Massen weiter ausdehnen. Sie hatten noch einen anderen Häftling. Der war wegen Steuerbetrug gefangen genommen worden und hatte schon den Geldbetrag verhandelt, mit ddem er freikommen sollte. Nur war das Geld noch nicht angekommen.

Egal, man zerrte beide, Sousse und den Betrüger in Fesseln auf ein kleines Podest vor der Menge. Rhodes fragte:

»Wen wollt ihr? Welchen von den beiden soll ich töten?« Dieser Trick gab der traurigen Szene den Anschein, als ob das Urteil im Namen des Volkes erginge. Dabei war alles längst verhandelt und abgesprochen.

Die beiden Gefangenen wurde vorgeführt, geradezu so, als ob sie schon verurteilt seien, und die Masse grölte dazu, schimpfte und forderte Sousse’ Tod – ohne im geringsten verstanden zu haben, um was es bei diesem Drama wirklich ging und schon gar nicht, wer die Mitspieler waren und wer die Regie führte.

Es war ihnen egal. Das Pack wollte Blut sehen.

Jetzt. Sofort.

* * *

Die Obrigkeit herrschte mit Gewalt und Schrecken. Schon bei kleinen Vergehen wurde die Todesstrafe verhängt. Es gab kein Gefängnis, daher auch keine Haftstrafen. Man gaubte an Abschreckung. Oder aber, wenn der angeklagte Missetäter reich genug war, wurde er zu einer Geldstrafe verurteilt, die sich die Verwaltung der Besatzer teilte und wovon Herr Rhodes sich einen Teil in die eigene Tasche steckte.

Straffällige Frauen wurden so lange mit großen Steinen beworfen, bis sie langsam verbluteten oder später mit gebrochener Schädeldecke dahinstarben. Das hatte den Vorteil, dass eine aufgehetzte, aber anonyme Meute die Todesstrafe vollstreckte, aber niemand sich die Hände als der alleinige Henker schmutzig machen musste, denn jeder hatte ja »nur« einen Stein geworfen.

* * *

Der imaginäre Stab war über Sousse’ Kopf gebrochen worden und das erwartete Todesurteil ausgesprochen und sollte gleich noch am selben Nachmittag vollstreckt werden, denn die Zeit vor dem Feiertag war knapp. Dann durften keine Hinrichtungen stattfinden, keine sterbenden Straftäter sollten noch ihren letzten Atem an dem Feiertag aushauchen.

In der Zwischenzeit trieben die Uniformierten ihr böses Spiel mit dem verurteilten Sousse, Verhör, Folter, wie später Waterboarding und Elektroschocks im Abu-Ghuraib Gefängnis im Irak. Das Spiel mit den in jeder Hinsicht machtlosen Gefangenen hat sich seit zweitausend Jahren nicht geändert.

»Vergib ihnen! Sie wissen nicht, was sie tun!« Zu wem sprach Sousse? Wer sollte den Soldaten, die da ihr Spiel trieben, vergeben, wenn nicht Sousse selbst? Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr berührt mich dieser Satz.

Sousse dachte und lebte das, was er uns immer gelehrt hatte:

»Auch dein Feind ist ein Mensch und so wie du und ist er wert, geliebt zu werden.« Schwer zu verstehen, in einem Moment, in dem er unter Schmerzen litt und die Aufpasser seine Kleider zerschnitten und untereinander verteilten. Und doch seltsam: Sie hatten die Macht, hatten Waffen, und hätten diese einfachen und noch staubigen Kleider gar nicht gebraucht.

So gehen Menschen mit anderen Menschen um.

Warum?

Weil sie es können, weil sie einen Moment ihrer Macht auskosten wollen. Niemand, die Obrigkeit schon gar nicht, dachte daran, dass die Würde der Menschen unantastbar sein sollte.

* * *

Sousse wurde zusammen mit zwei anderen Delinquenten und unter dem Gejohle und Gekreische der Zuschauer mit Peitschen und spitzen Stöcken auf einen Hügel vor der Stadt getrieben. Zum Tode verurteile Bewohner der besetzten Gebiete wurden an ein Holzkreuz gebunden, eine Prozedur, die den Sterbevorgang mit Absicht grausam in die Länge zog und ein langes Schauspiel für die Zuschauer boten. Für die Besatzer selbst, gab es weniger grässliche Strafen, die schneller zum Tode führten.

Viel mehr war von den abscheulichen Vorgängen nicht zu berichten. Sousse überlebte die Nacht und verstarb in den Morgenstunden des neuen Tages. Die Schächer, die beiden anderen Rechtsbrecher waren, entgegen jeder Erwartung, zu Mittag des nachfolgenden Tages immer noch am Leben und wurden daher jetzt von den Soldaten mit Holzknüppeln zu Tode geprügelt, denn die Zeit drängte, denn schon morgen war Feiertag, das Pessach Fest. Und dazu musste, so war es üblich, die Richtstätte leer sein, frei von Blutstropfen, aufgeräumt und harmlos aussehend. Der Plebs hatte ohnehin inzwischen sein Interesse am weiteren Verlauf der Exekutionen verloren. Nur einige schwarz verhüllte Frauen beobachten weinend noch die Vorgänge um die Richtstätte aus der Entfernung.

* * *

Man hatte Sousse’ Leiche in ein Felsengrab gebracht, eine Höhle in einem Kalkfelsen und diese zur Sicherheit mit einem großen Steinhaufen verschlossen. Aber schon zwei Tage später, nach dem Feiertag, waren die Steine beiseite geräumt und das Grab leer. Keine Tücher, keine Blutflecken, keine Spuren.

Nichts.

Eine Überraschung? Keineswegs. Denn das Letzte, was die Obrigkeit wollte, war ein Märtyrergrab, eine Stelle an der sich seine Fans versammeln würden, Blumen und Kränze ablegen und sich dann doch wieder neu zu formieren, wie später in der Geschichte der Menschheit bei Nawalny, Mahatma Gandhi oder Nelson Mandela. Wahrscheinlich hatten sie während der Nacht die Leiche irgendwohin weggebracht, vermutlich in einen trockenen Brunnenschacht geworfen, wo ihn niemand suchen würde und wo ihn selbst die Straßenköter nicht mehr erschnuppern konnten oder mit Steinen bepackt im See oder bei Ashdod im Meer versenkt.

* * *

Aber Sousse hatte einen tiefen, unzerstörbaren Eindruck hinterlassen.

Seine Bewunderer hielten ihn am Leben – in Gedanken. Sie sahen ihn dort, wo er nicht war, wo er gar nicht sein konnte: Aber sie wollten ihn sehen und so sahen sie ihn auch; einzelne Frauen, die ihn gramvoll vermissten – der junge Sousse war bei Frauen beliebt – , aber auch große Gruppen, oft Dutzende oder Hunderte Menschen, die sich versammelt hatten und – irgendwie – auf seine versprochene Rückkehr hofften. Sie wollten ihn sehen also sahen ihn. Auch Elvis, Jim Morrison oder Kaiser Rotbart wurden noch wahrgenommen, lange nachdem sie verstorben waren.

Getrieben von einem Gewirr aus Hoffnungslosigkeit und Erwartung verschwamm so die Grenze zwischen Wirklichkeit und Illusion.

Aber war das wirklich noch wichtig?

* * *

Was hatten die Besatzer erreicht?

Das Gegenteil von dem, was sie zum Ziel hatten. Anstatt zu spalten, Zwietracht zu säen und die Menschen gegeneinander aufzuhetzen, sprachen diese jetzt miteinander. Die fremden Polizisten redeten mit den Bürgern, die Priester kamen aus dem Bethaus und mischten sich unter das Volk auf der Straße und am Markt; sie sprachen mit den Sklaven aber auch mit den Soldaten. Oft merkten sie gar nicht, dass sie in verschiedenen Sprachen aufeinander einredeten, denn es war jetzt gleichgültig, sie alle verband die gleiche Idee: Friede, Freundschaft, Liebe, auch den Feinden gegenüber. Das überzeugte alle. Es war, als sei Sousse wieder am Leben und mitten unter den Menschen, die hier so begeistert miteinander palaverten.

Frieden und ein freies und gemeinschaftliches Leben, das war jedem klar, war immer besser als der Hass, den die Besatzer mitgebracht hatten.

Ich erinnerte mich an das Versprechen, das ich Sousse gegeben hatte: Ich solle in die Hauptstadt reisen und dort, predigen und unsere Botschaft verbreiten, selbst wenn ich mich dafür in Lebensgefahr begeben würde. Sousse hatte mich überzeugt, dass unsere Sache es wert sei dafür zu leben und, wenn es denn sein müsse, auch dafür zu sterben.

In den Häfen an der Küste lagen genug Schiffe, die auf Ladung warteten und dann zur Hauptstadt lossegeln wollten. Die Reise würde eine Woche dauern, wenn die Winde günstig wehten, oder zwei Wochen zu anderen Jahreszeiten.

* * *

Es begann nach etwa fünfzig Tagen: Menschen trafen sich auf Plätzen und Straßen, Menschen aller Schichten, die sich vorher nicht gekannt hatten und nie miteinander gesprochen hatten. Es waren nicht Worte, die sie zusammenführten und verbanden, es war der Gedanke in Frieden, Freundschaft und gegenseitiger Achtung leben zu wollen. Keine Macht, keine Gewalt sollte mehr über die Menschen der Provinz herrschen.

Die Saat, die Sousse’ gesät hatte, war aufgegangen.

Sogar die Soldaten und Polizisten der Besatzer fanden Gefallen an der Vorstellung, in Freundschaft mit den Menschen zu leben, die sie bislang unterdrückt und kujoniert hatten. Sie hatten genug von ihrer sinnlosen Aufgabe die freien Menschen der Provinz zu mit Waffengewalt zu tyrannisieren.

Der Götterfunken von Freiheit, Gleichheit und brüderlicher Gemeinsamkeit war in ihren Herzen angekommen und begann zu keimen.

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